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Unsere schöne soziale Gesellschaft

Foto: Celine Founier

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Die Unfähigkeit der Menschen zu helfen und vor allem die ausgeprägte Fähigkeit weg zu schauen wenn jemand in Not ist, ist phänomenal. Ich habe heute und gestern Menschen getroffen, die hilflos waren. Allein, inmitten von Menschen. Und die auf die Hilfe von Mitmenschen so dringend angewiesen sind. Aber niemand unternimmt etwas, obwohl doch: einen großen Schritt – um über diese Menschen hinwegzuschreiten. Oder kurz anhält, denn ein neugieriger Blick tut doch niemandem weh.

Freitagmorgen, am Stachus. Es ist 07.30 Uhr und unter Massen an Menschen ächzt die Rolltreppe zum Sperrengeschoß, alle haben ein Ziel vor Augen, jeder geht irgendwo arbeiten und freut sich aufs Wochenende. Jeder hat so seine Probleme aber wenn ich mich selbst anschaue, sind meine Probleme entstanden aus einem Leben im Luxus. Dieses Leben das ich führe, seit ich Teil bin – Teil unserer sozialisierten Zivilisation. Manche Dinge machen mich traurig andere glücklich.

Ich komme oben an, Sperrengeschoß. Geradeaus geht es weiter zum überteuerten Luxusbäcker Rischart, vor dem das größte Problem darin besteht, dass sich Kunden und Personal über die ungerechte Schlangenbildung mokieren. Ich stutze plötzlich, halte Inne in meinem Alltagsrödel, nehme einen Kopfhörer aus dem Ohr.

Ich sehe eine Hand die sich krampfhaft - wie unter starken Schmerzen - zur Faust ballt. Einen Kopf mit dicker Wintermütze – am Boden. Rechts neben der Rolltreppe. Da - auf dem Weg zum Lift, unübersehbar. Ein achtlos herumstehender Rollator daneben. Betrunkener Obdachloser der schon jetzt die Kontrolle im Delirium des Rausches verloren hat? Ich sehe ihn an. Nein, er hat Schmerzen wirkt verloren, kann nicht aufstehen. Ich rüttle sachte an seiner Schulter.

Geht es Ihnen gut? frage ich laut. Ein Anzugträger kommt näher, neugierig.

Kann ich helfen? fragt er, seinen Aktenkoffer fest umklammert.

Ich gehe zu dem Mann am Boden.

Nein, sagt der Mann mit Wollmütze auf meine Frage. Es geht mir schlecht. Ich bin gestürzt, weiß nicht wie lange ich schon hier liege. Vielleicht bin ich über diesen nutzlosen Rollator gefallen, den ich trotzdem brauche.

Seine bayrische Mundart hängt im Raum ich hocke mich neben ihn, gebe ihm die Hand.

Darf ich? frage ich und nehme ihm seine Mütze ab. Eine Platzwunde – direkt auf seiner Stirn.

Ich frage: Können Sie aufstehen?

Er ächzt, Nein, nicht reißen.

Der Anzugmensch sagt: Nehmen Sie ihn von hinten über die Schultern hoch.

Ich sehe ihn an. Sage nichts, sehe wie er weiter seine Aktentasche umklammert hält. Ich nehme den Mann am Boden hinter den Schultern, helfe ihm aufzustehen, blockiere die Räder des Rollators und setze ihn dort ab. Sein Geruch ist streng – der Geruch der Straße. Der Geruch eines vielleicht frei gewählten Lebens in Freiheit oder auch ein unfreiwilliger Absturz in die mit diesem Leben der Straße oft verbundene bittere Armut. Ich weiß es nicht, werde es nie erfahren. Ich wähle den Notruf.

Nein, sagt der Mann schwach. Ich habe kein Geld.

Die Feuerwehr schickt einen Rettungswagen.

Kommen Sie zum Rischart, sage ich, um umständliche Beschreibungen zu vermeiden.

Sage dem Mann: Ich komme gleich wieder.

Gehe zum Bäcker mit den hohen Preisen und sage den Verkäufern, sie sollen den Rettungsdienst zu uns schicken, beschreibe den Weg. Gehe zurück. Sehe weiter Ströme an Menschen vorbeilaufen an dem Mann mit verschobener Mütze und blutender Kopfplatzwunde. Keiner bleibt stehen. Der Anzugmensch steht noch immer unschlüssig herum. Ich warte auf den Rettungsdienst, höre mit einem Ohr weiter Musik.

Warten Sie? kommt die vorhersehbare Frage des Mannes mit Aktenkoffer.

Ja. Dann geht er.

Der Mann auf dem Rollator sieht mich an.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Er schüttelt traurig den Kopf. Ich habe solche Schmerzen. Letzte Woche wurde ich aus einem Krankenhaus entlassen.

Er zeigt mir seine Beine. Bandagiert bis fast zum Knie, getrocknetes Blut ist eine Spanne weit an ihnen heruntergelaufen.

Alles wieder aufgebrochen, seufzt er. Stützt sein Gesicht in die Hand und sagt: Ich kann nicht mehr, will nicht mehr. Ich kann diese Schmerzen nicht mehr ertragen.

 

 

In diesem Moment schallt das Lied „Waiting Around To Die“ über mein eines Ohr,

in dem immer noch ein Kopfhörer baumelt.

 

Mir steigen Tränen in die Augen. Was für eine Welt. Einen Steinwurf weiter drängen sich die Menschen um den Rischart, geben ihr Geld für Backwaren aus, beschimpfen Drängler und versuchen selbst den besten Platz zu ergattern. Andere Menschen strömen an uns vorbei, an einem der meistfrequentierten Plätze Münchens zu dieser Tageszeit. Über uns hängen Plakate mit Werbung für Veranstaltungen in der Olympiahalle, die keine Preise zeigen – der weinende Mann vor mir könnte sich Tickets ohnehin nicht leisten. Verstohlen wische ich mir über die Wange, sehe auf. Zwei Männer in Orange stehen vor uns. Der bezahlte Rettungsdienst der Feuerwehr.

 

Nein die Welt ist doch nicht nur schlecht. Immerhin engagieren wir alle Menschen die helfen.

Immerhin zahlen wir alle Steuern… Warum soll ich mir selber die Hände schmutzig machen?

 

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