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Autismus und Cannabis


In Deutschland ist die Forschung zur Förderung von Menschen mit Autismus - gleich ob es sich um frühkindlichen oder asperger Autismus handelt - sehr dünn um nicht zu sagen inexistent. Ein Mensch den ich seit seiner Geburt kenne und schätze hat Zeit seines Lebens unter diesem fehlenden Verständnis unserer Gesellschaft was sein Krankheitsbild betrifft gelitten. Er hat keine Förderung seiner Interessen und kaum Verständnis seiner Art erhalten. Im März 2017 trat das Gesetz „Cannabis als Medizin“ in Kraft. Mein guter Freund profitiert seit Anfang August von diesem Medizinalcannabis.

Paul (23) wuchs in einer Großfamilie mit vier Geschwistern, mit Hund und Katze auf dem Land auf, nachdem er seine ersten Lebensjahre in München gelebt hatte. Frühkindlicher Autismus wurde ihm psychologisch diagnostiziert als er bereits sieben Jahre alt war. Doch seiner Mutter war schon viel früher schon klar geworden, dass ihr drittes Kind nicht lernte und kommunizierte wie ihre anderen Kinder. Paul beschäftigte sich stark mit sich selber, verstand früher als die anderen Kinder die Sprache und deren Bedeutung, doch für sich sah er keinen Sinn darin, zu lernen sie zu sprechen.

 

Er begann seine ersten Worte zu formen als er etwa sechs Jahre alt war.

 

Als Beispiel: Heute noch hat er kein Verständnis für die erste und zweite Person, sich selbst bezeichnet er als Paul oder als Du, denn so sprechen ihn alle anderen auch an. Jemand mit dem er direkt spricht ist für ihn Ich. Das zeigt ein bisschen seine Art zu denken. Noch vor einigen Monaten trug Paul beinahe regelmäßig einen dicken Verband um eine Platzwunde an seinem Kopf oder hatte Kratz- und Bisswunden an den Händen, dem Rücken oder im Gesicht. Gegenstände die ihm besonders wertvoll sind, waren häufig gewaltsam beschädigt. Wenn er traurig war oder sich übergangen fühlte, wenn er von Menschen die er liebt nicht wertgeschätzt wurde, nahm er entweder Dinge, die ihm viel bedeuten und zerstörte sie bewusst oder er verletzte sich selbst durch Kratzen und Beißen oder er schlug den Kopf gegen harte Gegenstände, Möbel oder Wände. Abhalten konnte man ihn davon nicht. Erst sobald Sachen zerstört waren oder Blut floss hörte er auf, ließ sich behandeln oder bedauerte, seine Lieblingsdinge zerstört zu haben. Woher kam dieses irrationale Verhalten? Ich denke, Paul fällt nichts schwerer, als Gefühle zu zeigen. Er kann sich nicht mitteilen, lebt fast ausschließlich in seinem eigenen Universum. Wer den Film Im Weltraum gibt es keine Gefühle gesehen hat, versteht möglicherweise was ich sagen will. Wer ihn nicht gesehen hat, sollte ihn anschauen. Das persönliche Universum Pauls ist geprägt von „krankhafter Kontaktunfähigkeit“, was die sinngemäße Übersetzung des Wortes Autismus ist. Diese Kontaktunfähigkeit wird begleitet von stereotypen und sich wiederholenden Verhaltensweisen (vgl. Spielfilm Rainman). Die Herkunft des Wortes stammt vom griechischen Wort autós - selbst. Er bezieht sich in seinen Gedanken und Handlungen beinahe ausschließlich auf sich selbst. Ihn aus einem Kreisel herauszuholen, in dem er sich bewegt und vollkommen abwesend wirkt, fällt Personen die ihn gut kennen schwer. Für Menschen die ihn kaum kennen scheint oder ist es sogar unmöglich.

 

Die Verletzungen, die Paul begann sich zuzufügen, wurden schlimmer.

 

Er schlug einmal eine doppelt verglaste Fensterscheibe mit der bloßen Hand in Scherben. Ein anderes Mal schlug er seinen Kopf gegen eine Vollholztür, die anschließend einen Bruch in Form seine Kopfes hatte. Er erreichte mit den Selbstverletzungen einen lebensgefährlichen Punkt. Ich begann mich vor den Folgen für meinen guten Freund zu fürchten. Oder würde er bald, abgestumpft aufgrund notwendig gewordener Beruhigungsmittel, die die Pharmaindustrie reich und die Konsumenten krank machen, in einer geschlossenen Psychiatrie geistig umnebelt vor sich hindämmern? Als diese schwerwiegenden Autoaggressionen immer schlimmer wurden, hatte seine Mutter bereits seit längerem eine individuelle Betreuung für Paul bei der zuständigen Behörde im Rahmen des persönlichen Budges beantragt. Beinahe täglich kamen und kommen ausgebildete Sozialpädagogen zu ihm nach Hause, um ihn zu fordern und zu fördern.

 

So die Grundlage für Paul zu schaffen, dass es ihm auf lange Sicht möglich wird,

ein eigenständiges Leben zu führen.

 

Dennoch war es nicht nur für diese fachlich qualifizierten Menschen schwer, Paul zu erreichen ihn daran zu hindern sich zu verletzen. Auch Pauls Mutter und mir fiel das zunehmend schwerer: Ihn aus seiner endlosen Schleife eigener Gedanken zurück in die soziale Realität zu holen. Rücksprachen mit einer Psychologin und eigene Recherchen zu den Schlagworten Autismus und THC eröffneten plötzlich einen völlig neuen Ansatz zur Entwicklungsförderung Pauls. Seit Anfang August erhält Paul synthetisches Cannabis in geringen Dosen. Doch das zu erreichen, war ein langer Weg. Seit der Gesetzesänderung und der Beantragung im März ist fast ein halbes Jahr vergangen, bis er endlich das THC in Tropfenform medizinisch verschrieben bekam. Gesetzliche Prämisse war, auszuschließen dass andere Medikamente - wie beispielsweise Lorazepam besser bekannt als Tavor - ihm helfen würden. Doch dieses Medikament ist lediglich für kurzzeitige Behandlungen in akuten, gefährlichen Situationen geeignet. Denn die Nebenwirkungen des Medikamentes aus der Gruppe der Benzodiazepine sind erschreckend. Es gilt als das Benzodiazepin-Präparat, dass das größte Suchtpotential beinhaltet und die höchste Missbrauchsrate aufweist.

 

Paul war unter Einfluss der sogenannten „Happy Pill“ wie weggetreten.

 

Er konnte sich kaum artikulieren, konnte nicht sicher geradeaus gehen. Ich habe schon erwähnt, ich kenne ihn schon immer und schätze seine Persönlichkeit. Doch von dieser war unter dem Einfluss von Tavor nichts mehr übrig. Es machte mich traurig und ihn krank. Eine der durch Studien belegten Langzeitfolgen der Einnahme sind stark erhöhte Risiken für eine spätere Demenzerkrankung.

 

Heute ist Paul wieder der Paul den ich kannte bevor er die beschriebenen Autoaggressionen entwickelte.

 

Ich kann mich mit ihm unterhalten - wenn ich auf ihn eingehe. Mich einfühle in seine Art Dinge wahrzunehmen und zu verarbeiten. Wenn ich ihm bewusst zuhöre, verstehe ich ihn wieder: Seine Art zu kommunizieren, denn er beginnt damit, sich mitzuteilen. Er kommt mich in München besuchen und wir haben unglaublich viel Spaß zusammen. Denn der größte Schritt, den ich ihn jemals habe machen sehen, liegt erst ein paar Tage zurück und treibt mir beim Gedanken daran die Tränen in die Augen. Denn diesen Schritt zu gehen hat ihn unfassbar glücklich gemacht: Er konnte das erste Mal in seinem Leben - ohne Begleitung einer Aufsichtsperson - mit dem Zug von München nach Hause fahren. Und - Paul - das verspreche ich dir, heute und hier: Es wird nicht das letzte Mal bleiben. Komm mich besuchen wann immer du willst, denn du bist mein Bruder.

 

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